Esther Niebel: FRAGIL – ANTIFRAGIL und nun VERLORENE FORM. Die Titel deiner bisherigen Einzelausstellungen transportieren eine gemeinsame Grundidee, wie du selbst auch schon gesagt hast: Brüchigkeit, Suche, Fehler, das Zulassen und schließlich das Integrieren von Fehlern, zerstören und neuschöpfen. Und gleichzeitig verhalten sich die Titel zueinander wie Antagonisten: sie sind Negierung und Modifikation ihres Vorgängers und Nachfolgers, wobei VERLORENE FORM zusätzlich einen Quantensprung zu den beiden Vorgängern darstellt. Im technischen Sinne steht die verlorene Form für eine Negativform, die nach dem Guss zerstört werden muss, um die Plastik herauszuschälen. Eine Form wird zugunsten eines anderen Seins-Zustandes zerstört, beziehungsweise überwunden. Was hat diese Assoziation mit deinen neuen Arbeiten zu tun?

Tino Geiss: Nichts. Ich arbeite parallel, nicht linear. Die malerische Welt ist ein Labor und viel zu interessant als das irgendwas im Straßengraben liegen bleibt. Auch ist in den neuen Arbeiten alles drin, was schon in den vorherigen Bildern drin war. Ich nehme alles immer mit. Kann mich nur schwer trennen. Lieber laufe ich etwas langsamer, als Ballast abzuwerfen. Für mich sind das kleine Entwicklungen, die nach und nach zu Tage treten, über lange Zeit gären, lange nicht funktionieren, die ich beobachte und mich in Geduld übe. Erste farbreduzierte Versuche gab es schon 2012, aber außer zwei Personendarstellungen („Morandi“ und „Cezanne“) ist nichts geblieben. 2018 hat es dann „knack“ gemacht.

Ich reise viel, wandere durch die Vergangenheit Europas und sammle dabei vorhandene Bilder und Eindrücke aus Museen, von Gedenkorten, Kirchen, Friedhöfen, Bibliotheken, auf Ausstellungen.

Tino Geiss

Auffällig an der Serie deiner neuen Collagen ist, dass sie mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als vorhergehende Werkgruppen. Erstens sind sie alle im gleichen Format, nämlich 156x100cm, zweitens sind sie alle schwarz-weiß mit farbigen Einsprengklern, die wie Lichtreflexe wirken, und drittens zeigen sie alle Interieurs. Wie kommt es zu dieser „Geschlossenheit“ der Serie?

Die vermeintliche Geschlossenheit ist etwas trügerisch. Der serielle Charakter war die Idee für die Ausstellung, auch die Streifen und die Bouquets wiederholen sich im Format. Im Atelier arbeite ich an Einzelbildern - es gibt andere Formate, andere Größen, andere Farben, mit denen ich experimentiere.

Die Interieurs zeigen nicht irgendwelche Räume sondern es handelt sich um Orte, zu denen du eine Beziehung hast. Und nicht nur das, sondern es sind Räume, die in irgendeiner Weise eine Bedeutung haben, sei es kulturell, künstlerisch oder auch historisch. Ist das für dich wichtig?

Für mich persönlich ist es wichtig. Ich reise viel, wandere durch die Vergangenheit Europas und sammle dabei vorhandene Bilder und Eindrücke aus Museen, von Gedenkorten, Kirchen, Friedhöfen, Bibliotheken, auf Ausstellungen.

Bei deinen Titel „verschleierst“ du diese Bedeutung oder besser gesagt, du gibst unspezifische Titel, die nicht darauf hinweisen, dass es sich um besondere Räume handelt. Warum?

Für meine Bilder ist die Bedeutung des Motivs eher unwichtig. Sie sind keine Dokumente, dienen nicht als Zeitzeugen, Abbildungen oder Illustrationen. Sie gehen auf Distanz zum ursprünglichen Motiv, sind künstliche Bilder –Erfindungen...Malerei.

Bouquet - Rose und Flieder, 68 x 45 cm, Klebebandcollage, 2018

In der letzten Ausstellung und auch in dieser zeigst du fast nur Collagen. Die einzigen Malereien, die du zeigst, sind die gemalten Streifen, bei denen man sich streiten kann, ob sie mehr zur Collage oder mehr zur Malerei gehören (sie sind zwar gemalt, zeigen aber singulär dein Arbeitsmaterial für deine Colla gen). Hat die Collage endgültig die Malerei ersetzt?

Nein! Aber ja. Die Collage nimmt momentan mehr Zeit in Anspruch.

In der letzten Ausstellung und auch in VERLORENE FORM zeigst du uns verschiedene Varianten von Blumenbouquets? Was interessiert dich an diesem Motiv?

Das was mich an allen Motiven interessiert, hauptsächlich Raum, Form, Komposition, Farbbeziehungen, Material, Licht, Stofflichkeit; daneben aber auch Harmonie, Brüche, Zerstörungen, Schönheit, Liebe, Dissonanzen, Befindlichkeiten, Kitsch, Heimat, Vergangenheit, Melancholie, Gegenwart, Spuren, Zeit, Enttäuschung, Überraschung, Vergänglichkeit, Angst, Fehler, Geschichte, Zärtlichkeit....