Das Leben und das Werk müssen sich gegenseitig bedingen.

Gertrud Louise Goldschmidt

Esther Niebel: Wie kommt es, dass du dich ganz der Zeichnung verschrieben hast, wobei heutzutage Malerei auf Leinwand bei den klassischen Medien fast durchgehend von deinen Kollegen bevorzugt wird. Zudem sind deine Zeichnungen monochrom – meist schwarze Tusche, selten rot, auf Papier. Was fasziniert dich an der Zeichnung? Warum erscheint dir die Zeichnung als geeignetes Medium für das, was du ausdrücken willst?

Maribel Mas: Ich glaube, dass alle gebräuchlichen Medien der Malerei, Zeichnung oder Grafik den gleichen Wert haben. Es kommt auf die Intention an, die der Künstler hat und auf die Kohärenz im Zusammenhang mit dem Werk. Mit Kohärenz meine ich das Verhältnis des fortlaufenden Arbeitsprozesses und seiner Ergebnisse, die eine Einheit bilden sollten. Dazu gehört schließlich auch die Präsentation. Gego (Anm. Gertrud Louise Goldschmidt) sagte in diesem Zusammenhang zu ihren Studenten: „Das Leben und das Werk müssen sich gegenseitig bedingen.“

Vielleicht ist meine Liebe zu Papier und Tinte ursächlich dafür, dass ich die Zeichnung für das natürlichste Medium halte. Eine Zeichnung kann nichts verstecken und sie kann nicht geändert werden. Sie ist wie sie ist und wir müssen sie so akzeptieren oder von neuem beginnen. Daher glaube ich, dass wenn sich jemand in eine Zeichnung vertieft, man sich dadurch reflektieren kann und einen vertrauensvollen, fast intimen Dialog führen. Ich halte die Zeichnung nicht für wertvoller als andere künstlerische Medien, und trotzdem möchte ich betonen, dass sie einen einzigartigen Charakter hat, der sie zeitgenössischer als andere, selbst als digitale Medien macht. in den Worten von Agnes Martin ausgedrückt: „Ich möchte darauf hinweisen, dass es unterschiedliche Menschen gibt. Der Unterschied liegt in dem Willen begründet, seiner Bestimmung zu folgen. Es kommt vor, dass jemand für eine bestimmte Aufgabe geboren wird. Manchmal erscheint diese Bestimmung anderen wie ein Vorurteil und es macht ihnen Angst. Wenn sich ein Künstler seiner Aufgabe bewusst wird, wenn er genau weiß, was er tut und wie er es tut, kann man sagen, dass er eins wird mit seiner Vision.

Alles in deinem Arbeitsprozess beziehungsweise in deiner Umsetzung ist mit Bedacht gewählt. Besonders beeindruckt hat mich deine Geschichte, wie du an dein Papier kommst, auf das du zeichnest. Wie bei der Slow food – Bewegung kommt es bei deinen Arbeit auf alle beteiligten Komponenten an. Kannst du bitte nacherzählen, wie du zu deinem Papier kommst und warum du es mit diesem großen Aufwand, aber auch persönlicher Anteilnahme, besorgst?

Vor vielen Jahren, als ich als Illustratorin für eine Zeitung gearbeitet habe, sollte ich einen Artikel über Verschmutzung durch die Papierindustrie illustrieren. Ich war schockiert. Es ist nicht nur so, dass ganze Wälder zerstört werden, um Druckpapier oder Verpackungspapier herzustellen, sondern alle Produktionsweisen von industriellem Papier, selbst Recycling-Papier, ist extrem umweltbelastend. So ist bei mir ein Bewusstsein von der Werthaftigkeit von Papier gewachsen. Ich habe recherchiert und herausgefunden, dass es Papier gibt, das chlorfrei auf Plantagen produziert wird, ganz ohne Chemie. Damals studierte ich Lithografie an der Kunstschule “Conservatori de les Arts del Llibre” in Barcelona und als Teil eines Projektes, haben ich und Mitstudenten von mir 2002 von Hand hergestelltes handgemachtes Papier aus Japan gesammelt. So hatte ich das Glück, dieses Papier nutzen zu können, das aus Fasern der Ganpi, Kouzo oder Mitsumata Pflanzen gewonnen wird. Als ich nach Japan reiste, um die Papier-Werkstätten zu besuchen, sah ich schließlich, dass die ganze Familie bei der Herstellung des Papiers beteiligt war: die Oma saß auf dem Boden des Gartens und trennte mit einem Messer die Rinde von den langen Pflanzenstreifen. Hinter ihr stand ein großer Holzkocher, in dem die Pflanzen mit Aschen gekocht wurden, um die Fasern weich zu machen. In der Werkstatt konnte man jeden Verarbeitungsschritt beobachten, bis hin zur Trocknung. Neben der Tür gab es einen Fischtank mit roten Karpfen und ich habe gefragt, ob sie die Maskottchen der Werkstatt seien. “ Nein, das sind keine Haustiere,“ bekam ich zur Antwort, „die Fische sind die Beauftragten, die bezeugen müssen, dass das Abwasser absolut rein ist, wenn es den Fluss erreicht.” Leider ist der Gesamtverbrauch des industriellen Papiers in Deutschland nicht gesunken, entgegen dem Glauben vieler Menschen. Die Zahlen sind alarmierend und der Verbrauch von Verpackungspapier steigt jedes Jahr aufgrund des steigenden Versandhandels über das Internet.

Die Geschwindigkeit, mit der ich zeichne, ist die Geschwindigkeit, die die Tusche mir vorgibt, wenn sie in Kontakt mit dem Papier kommt.

Maribel Mas

Konzentration, Sinnhaftigkeit, Wiederholung und Ausdauer sind Schlageworte, die deine Arbeiten beschreiben können. Bezüglich der Raum-Zeit-Dimension bewegen sie sich zwischen den Polen Moment (Punkt) und Unendlichkeit (Schlaufe) beziehungsweise Leere (Zwischenräume) und Raum (Linien, durch die Flächen entstehen). Was bewegt dich dazu, mehrere Stunden am Tag eine immer gleiche Bewegung, mit wenigen Modifikationen, auszuführen. Welche Gedanken legst du in deine Linien und welche Gedanken oder Empfindungen glaubst du bei dem Betrachter wecken zu können?

Wer leidet heutzutage nicht unter Unruhezuständen? Es ist nicht nur ein zeitgenössisches Leiden, die Menschen hatten immer Sorge vor der Zukunft und kämpften mit der Uhr. Aber dieses unruhige Gefühl hat sich in der Gegenwart noch verstärkt. Vielleicht liegt das an der Entkopplung von der Natur und Ihrem Zyklus. Wie Montaigne geschrieben hat: “Die Angst, der Wille und die Hoffnung tragen uns in die Zukunft, sogar wenn wir nicht mehr existiert”. Der einzige Weg, den ich gefunden habe, um dieses Gefühl von Angst zu mindern, ist auch in meiner Arbeit und meinem Leben die Geschwindigkeit zu reduzieren. Die von der Produktion und der Konsumgesellschaft vorgegebene Zeit müssen wir bremsen, um unsere eigenen Zeit zu finden. Die Geschwindigkeit, mit der ich zeichne, ist die Geschwindigkeit, die die Tusche mir vorgibt, wenn sie in Kontakt mit dem Papier kommt. Ich kann diese Geschwindigkeit nicht erhöhen oder reduzieren, sonst würden die Linien zu fein und es bestünde die Gefahr, dass sie abreißen oder sie würden zu dick und dann blockieren. Ich musste den Materialien „zuhören“ und mich anpassen. Vielleicht führt das zu etwas Harmonie und einem bedächtigen Wachstum. Die Formen öffnen sich um ein leeres Zentrum herum, das von einem Punkt ausgeht, den ich fest mit der Papierschablone verankert habe. Ich habe Jahren gebraucht, um das orientalische Konzept der Leer zu verstehen. -Leer von was?- habe ich mich gefragt. Ich konnte es erst verstehen, als ich begonnen habe, über viele Stunden hinweg still in einer Position zu verharren, um die Zeichnung nur in einem Punkt zu drehen – dann habe ich es verstanden. Mein Wunsch ist es, diese Ruhe, die ich bekomme, mit anderen zu teilen. Jeden Tag bekomme ich Liebe, Unterstützung und Ernährung, daher möchte ich aus Dankbarkeit etwas zurückgeben. Es ist eine Art von Beziehung, die Ghandi als “Interdependenz” bezeichnet hat und die später von dem Soziologen Zygmut Baumann analysiert wurde. „Interdependenz bedeutet gegenseitige Abhängigkeit und Verantwortung, ein gemeinsames Prinzip mit anderen zu teilen.“

Beim Zeichnen der Linien hört man das Kratzen des Tuschestifts, der seine Bögen um die Schablonen zieht, mal in einer ausladenden, mal in einer engen Kurve. Das Ganze hört sich an wie Meeresrauschen, das gurgelnde sich Sammeln des Wassers in den steilen Kurven und das Schlagen der Welle, wenn die Bewegung in den großen Bögen schneller wird. Das Geräusch, das du beim Zeichnen erzeugst, hört sich also auf angenehme Art organisch an. Denkst du, es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem Geräusch und den Dimensionen der Raum-Zeit, die du in deinen Arbeiten darstellst?

Ja, es ist alles verbunden. Isolierte Ereignisse existieren nicht, alles passiert aus einem Grund heraus. Bezogen auf meine Zeichnungen, entsteht der Ton durch das „Durchlaufen“ der Linie, die dem Rand der Schablone folgt. Man könnten diese Linien als organisch bezeichnen, weil sie nicht erzwungen sind. Es scheint, als ob sie eine harmonische Beziehung zueinander hätten. Gleichzeitig folgt der Lauf jeder Linie einem Zyklus, der sich wiederholt. Der sich wieder und wieder, mit geringen Verschiebungen um ein Zentrum herum bewegt. So bekommt jede Zeichnung ihre eigene Musik von diesen Interferenzen oder Vibrationen in denen sich die Linien kreuzen. Wie die Zeichnungen, sind auch wir voll von Echos, die erzeugt sind von unseren Zweifel, von einem innen Dialog zwischen zwei gegenseitigen Polen. Wenn ich die Schablonen in der Vorbereitung schneide, lege ich es darauf an, dass sie auch Dissonanzen, Spannungen und Kontrasten bekommen. Der Prozess ist der Komposition eines Musikstückes nicht unähnlich. Tatsächlich haben Musik und Poesie einen großen Einfluss auf meine Arbeit. Früher habe ich oft Musik von Steve Reich und Phil Niblock gehört, wenn ich gearbeitet habe.

Die Musik hat damals für mich eine extrem und brüchige Spannung kreiert, die mir geholfen hat, mich zu konzentrieren und Ideen oder Gedanken loszulassen, die mit der Zeichnung nichts zu tun hatten. Poesie hingegen interessiert mich wegen ihrer Musikalität und wegen der Kraft ihrer Bilder, die sie erzeugt und die lange in uns nachhallen, auch wenn wir das Buch längst geschlossen haben. Obwohl Poesie und Zeichnungen unterschiedlichen Medien angehören, können sie miteinander in einen Dialog treten. Zumindest versuche ich das in meiner letzten Grafiksammlung, mit einem Gedicht von Yolanda Pantín. Es ist, also ob Zeichnung und Gedicht die gleiche Schwingung besäßen.

Die Begrenzung durch das Papierformat zum Beispiel eröffnet mir jedes Mal ein neues Problem. Ich brauche Tage oder auch Monate dafür, zu lernen, wie ich meine Zeichnung innerhalb dieser Grenzen entwerfe.

Maribel Mas

Die Grundformen deiner Schablonen, die du zum Zeichnen verwendest, kommen aus der Kurvendiskussion. Welche Verbindungen oder Verwandtschaften siehst du zwischen deinen Arbeiten und der Geometrie?

Bei meinen ersten Zeichnungen habe ich die Burmester-Schablonen, die auf den klassischen Kurvenregeln beruhen, verwendet. Als ich Studentin war, wurde uns gesagt, dass man mit diesen drei kleinen Regeln, alle möglichen Zeichen konstruieren könne. Irgendwie habe ich geahnt, dass in ihnen große wissenschaftliche Erkenntnisse stecken und so habe ich versuche, sie einzusetzen, allerdings nicht auf herkömmliche Art. Ich habe angefangen, sie um einen festen Ankerpunkt in sich zu drehen. Das Ergebnis hat mich sehr überrascht. Später habe ich diese Regel durchbrochen, um wieder die einzelnen Teilen zu kombinieren, mit kleinen Veränderungen in jeder Zeichnung. Kürzlich habe ich über Ursprung und Gestalt dieser Burmester-Schablone nachgelesen und herausgefunden, dass in ihnen zwei Arten von Spiralen kombiniert sind: die logarithmische Spirale und Klothoide, die eine spezielle, ebene Kurve ist. Die logarithmische Spirale ist eine Kurve, die man in der Natur entdecken kann, in dem Wachstum der Pflanzen, dem Flug der Vögel oder auch in dem Aufbau der Galaxien. Der Mathematiker Jakob Bernoulli beschreibt sie als: “Symbol der Stärke und der Widrigkeit, oder als Symbol des menschlichen Körpers”. Ganz anders ist die Klothoide Kurve, die, wie die Archimedische Spirale, reine mathematische Formeln darstellt. Sie geht über den natürlichen Wachstum hinaus und visualisiert eine beständige, abstrakte und perfekte Form - ein Ideal.
Vielleicht ist es diese Kombination, die interessante Ergebnisse bringt. Auch wenn es vielleicht lustig klingt, würde ich sagen, dass die Burmester-Schablonen eine Balance zwischen dem apollinischen und dionysischen Prinzip darstellen. Bei dem Anwenden der Kurven-Regeln war mir klar, dass sie keine Grenze darstellen müsse. Es kommt nur darauf an, wie man sie in der Praxis anwendet, da es möglich ist, die Regeln immer neu zu interpretieren. Außerdem glaube ich, dass es eine grundlegende Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst gibt, die mehr in einer gemeinsamen Methodologie fußt, als in ihrem formalen Inhalt. Als Biologiestudentin habe ich an der Universität den Wert des Versuch-und-Irrtums-Prinzip kennengelernt. Es gibt keinen Fortschritt ohne Fehler und diese Fehler zu analysieren ist sehr wertvoll.
Ein anderer wichtiger Punkt bei meinen Zeichnungen ist der Umgang mit der Begrenzung. Die Begrenzung durch das Papierformat zum Beispiel eröffnet mir jedes Mal ein neues Problem. Ich brauche Tage oder auch Monate dafür, zu lernen, wie ich meine Zeichnung innerhalb dieser Grenzen entwerfe. Wenn ich ein breites Querformat benutze, muss sich die Form in viele Falten legen, um sich dieser extremen Kompression anzupassen.
Ich habe das Gefühl, dass etwas Ähnliches auch in unserem Leben passiert: Eingrenzungen treiben uns mehr als erwartet an, aufgrund der Widerstandkräfte, die sie in uns erzeugen.