Esther Niebel: “Serenissima” ist deine erste Einzelausstellung in der Galerie. Die Bildserie, die du zeigst, gibt die Stadt Venedig wieder. „Serenissima“ ist ein alter Beiname Venedigs. Er steht für Heiterkeit, Gelassenheit und Würde und spielte ursprünglich auf die große Bedeutung der Stadt vor allem als Handelsmacht an. Von heute aus betrachtet transportiert der Beiname allerdings eher etwas Tragisches oder zumindest etwas Ambivalentes insofern Venedig aufgrund seiner antiken Schönheit ein Sehnsuchtsort für viele Menschen weltweit ist und gleichzeitig ein durch Überflutung existentiell bedrohter Ort. Spielt diese Doppelbedeutung der Sehnsucht bei gleichzeitiger Bedrohung eine Rolle in deinen Bildern, drückt sich das irgendwie aus?
Jörg Ernert: Irgendwie schwingt die Endlichkeit beim Thema Venedig für mich immer mit. Die geografische Lage der Stadt schien genial als Rückzugsort für Fischfang, Salzgewinnung, als Handelsplatz, zur Kriegsführung und so weiter. Daher waren die Venezianer von Anfang an bemüht das fragile ökologische Gleichgewicht künstlich auszubalancieren. Schon in der Frührenaissance wurde eine totale Verlandung der Lagune verhindert. Im 19. Jahrhundert dokumentierte John Ruskin Venedig fieberhaft Stein für Stein, da die Stadt von Österreich mit Ballonbomben dem Meeresspiegel gleich gemacht werden sollte. Heute ist das Bedrohliche das Hochwasser und der Tourismus. Mich interessiert, was sich hinter dem kulissenhaften Zauber der Fassaden abspielt und wie sich die Architektur zwischen Himmel und Wasser aufzulösen scheint. Ja, in gewisser Weise spiegelt sich der drohende Verfall in meiner Malerei durch dramatische Übersteigerung und Deformierung der Motive wieder.
Esther Niebel: Bisher hattest du immer zwei unterschiedliche Werkgattungen: zum einen Nachbilder, bei denen du auf klassische Bilder der Kunstgeschichte zurückgreifst, um ihnen eine eigene Interpretation hinzuzufügen, zum anderen ganz eigene Motivfindungen. In deiner Venedig-Serie kommt zum ersten Mal beides zusammen. Du gibst Bilder nach Guardi, Prout oder Belotto wieder und hast aber auch eigenen Motive wie „das Hoffenster“. Was hat Venedig, was andere Motive nicht haben?
Jörg Ernert: Über Venedig wurde schon wahnsinnig viel geschrieben und es gibt unzählige Bilder. Vielleicht ist es gerade die Herausforderung, sich mit dem Ort auseinanderzusetzen ohne in Klischees zu verfallen. Wenn ich vor Ort zeichne, kann ich das gut ausblenden, dann bin ich nur noch in dem Moment und öffne mich möglichst unvoreingenommen den Dingen, die mir begegnen. Das Labyrinth der Stadt überrascht mich immer wieder. Man kann sich verlaufen, um dann doch wieder am Meer zu landen und in die Weite zu schauen! Bei der Verwendung von Werken aus der Kunstgeschichte werden eher meine inneren Bildwelten aktiviert. Meist sind die Motive meiner Vorbilder auch nur von Venedig inspirierte Neuschöpfungen. Da wurden Häuser weggelassen, Proportionen verschoben oder typische Architekturelemente geschickt zu neuen Räumen verbunden. Ich finde es spannend dieser Stadt auf verschiedenen Ebenen neu zu begegnen.
Esther Niebel: Fast immer malst du verschiedenen Fassungen eines Motivs. Die einzelnen Fassungen unterscheiden sich weniger im formalen Aufbau als in ihrer teilweise sehr unterschiedlichen, meist aber sehr intensiven Farbgebung. Leuchtende Rottöne, kräftiges Blau oder Lila kommen zum Einsatz. Deine Bilder bekommen dadurch etwas expressionistisches. Welche Entscheidungen stehen hinter deiner Farbwahl?
Jörg Ernert: Da mein Fundus an Bildvorlagen aus unzähligen Bleistiftzeichnungen oder meist sehr schlechten Reproduktionen besteht, fühle ich mich in der Farbwahl sehr frei. Durch das übersteigerte, von der Realität abweichende Kolorit, versuche ich eine neue Realität zu schaffen, um etwas klarer die Energie zu transportieren, die ich vor dem Motiv empfunden habe. Da fließt natürlich auch viel Unbewusstes und Experimentelles in den Malprozesses mit ein.
Esther Niebel:In deinen früheren Serien hast du dich fast schon übergroßen Innenräumen, wie einer Kletterhalle oder der Hinterbühne der Oper Leipzig gewidmet. In deiner Venedig-Serie zeigst du uns aber keine Innenräume sondern Außenansichten der Stadt. Welchen Unterschied macht es für dich Außenräume zu malen?
Jörg Ernert: Die Idee von einem überschaubaren Arbeitsort, den ich über mehrere Jahre auch bei schlechten Wetterbedingungen besuchen kann, fand ich schon immer reizvoll. Oft waren es daher Räumlichkeiten in Ateliernähe, von denen ich mich inspirieren ließ. Venedig knüpft eher an meine Anfänge an. Von meinem Studienaufenthalt in New York City 1996 brachte ich damals zahlreiche Skizzen mit, nach denen ich dann meine Malereien entwickelt hatte. Manhattan hat übrigens auch diesen Inselcharakter, ein Labyrinth das sich zum Wasser hin öffnet und ich war wie in Venedig auch viel zu Fuß unterwegs. Aber um auf deine Frage zurück zu kommen: vielleicht fühle ich mich bei der Arbeit in Stadträumen mehr getrieben. Wobei es mir große Lust bereitet aus Landschaften Innnenräume zu entwickeln und umgekehrt.
Esther Niebel: Wann hast du mit einem Thema, einer Serie oder auch einem Motiv abgeschlossen? Im Konkreten in Bezug auf deine Venedig-Serie gefragt: wie oft musst du den Palazzo Contarini Fasan nach Prout malen bis du zu dem Punkt kommst, dass du keine weitere Fassung mehr malen möchtest? Oder im Allgemeinen: wie viel Venedig-Motive setzt du um, bis du das Kapitel Venedig für dich abschließen kannst?
Jörg Ernert: Wenn ich mich einmal in ein Thema verfangen habe, kann die Beschäftigung damit schon über drei bis vier Jahre andauern. Oft sind es auch äußere Umstände, die zum Abschluss einer Serie führen. Bei Venedig kommt vielleicht noch eine größere inhaltliche Auseinandersetzung dazu. Es gibt für mich, wie schon erwähnt, mehrere interessante Zugänge zu dem Thema, bis hin zur Organisation von Studienfahrten für meine Studierenden. Es entstehen tatsächlich manchmal mehrere Bildfassungen, nach Samuel Prout sind sechs größere Bilder entstanden. Dieses Vorgehen gibt mir die Freiheit ein Motiv weiterzuentwickeln, in verschiedene Lichtstimmungen zu tauchen, zu verzerren, Grenzen auszuloten. Sicher könnte ich das auch alles auf einer Leinwand durchlaufen, dabei würde mir dann aber wohl manchmal die Leichtigkeit verloren gehen.