Von der Idee zum Bild

Johannes Nagel im Interview mit Esther Niebel

Esther Niebel: Du stellst ab April 2021 erstmalig zusammen mit Tino Geiss unter dem Titel RECHERCHEN aus. Im Vorfeld haben wir über den Titel diskutiert und nach Gemeinsamkeiten eurer Arbeiten gesucht, die sich im Titel ausdrücken. Ausgehend von dem Romantitel von Marcel Proust „Á la recherche du temps perdu“ sind wir schließlich auf RECHERCHEN gekommen. In dem Originaltitel würde dir zu viel fin du siècle mitschwingen, hast du gesagt. Man kann dir auch unterstellen, da in der allgemeinen Auffassung das Sujet der Vasen als Kunstgattung schnell mit der „vergrabenen Antike“ gleichgesetzt wird, dass du dich dagegen verwehren wolltest, Vasen primär für eine vergangene Epoche stehen zu lassen.

Johannes Nagel: Vasen stehen nicht generell für eine vergangene Epoche. Es sei denn, man bezieht sich auf diese pompöse Vergangenheit. Vasen sind Kulturspeicher der Gegenwart.

Esther Niebel: Wie frei oder wie unfrei kann man mit Assoziationen eines Titels umgehen?

Johannes Nagel: Frei oder unfrei – geht beides. Wie bei allen künstlerischen Fragen ist es wichtig, dass es trifft.

Esther Niebel: Wie sehr beeinflußt einen dabei die eigene Vorstellung über die Rezeption des Titels?

Johannes Nagel: Ziel der Kunst und des Titels ist es, ein Bild zu schaffen, das alle diese persönlichen Vorstellungen in Resonanz versetzt.

Esther Niebel: Inwiefern muss man einen offeneren Titel wählen, wenn man nicht alleine ausstellt und stellt das einen Zugewinn oder einen Verlust dar?

Johannes Nagel: Das ist wie mit der Auswahl der richtigen Farbe für Sockel – je weiter man sich aus dem Fenster lehnt, desto größer ist das Risiko, aber auch der mögliche Gewinn. Weiß geht immer, ist aber etwas langweilig. Apricot ist ein echtes Risiko, kann aber auf den Punkt sein.

Esther Niebel: Der Begriff „rotationssymetrisch“ ist mir als „Bilderkonsumentin“ neu. Dennoch macht er in Bezug auf deine Arbeit als Schlüsselbegriff sofort Sinn. Ist die „Rotationssymetrie“ der goldene Schnitt der Keramik?

Johannes Nagel: Der goldene Schnitt als harmonische wohlklingende Proportion hat auch den Effekt, dass eine Bildkomposition sortiert und damit zunächst erfassbarer und zugänglicher wird. Quasi als Schlüssel oder Eingang in den Bildraum. In diesem Sinn ist auch die Rotationssymmetrie ein Mittel um ein Objekt in einem Maß zu sortieren und erfassbar zu machen. Auf der Ebene der Wahrnehmung ist das also eine zulässige und ganz interessante Analogie.

Esther Niebel: Würdest du deine Arbeiten als Körper oder als Höhle beschreiben?

Johannes Nagel: Das sind natürlich Körper (geboren in Höhlen).

Esther Niebel: Welche Bedeutung hat für dich Farbe in Bezug auf deine Arbeiten?

Johannes Nagel: Freude der Deutung und Umdeutung von Form, Abstoßung und Anziehung erzeugen, Schönheit und Hässlichkeit, Assoziationsfeld in Vergangenheit und Zukunft, Mittel und Methode der Bewertung oder Feld der großen Geste.

Der letzte Schrei, 67 x 53 x 37 cm, Porzellan, Steinzeug, 2021

Esther Niebel: Deine Vasen wirken organisch, fast sogar lebendig. Mit ihren unebenen Oberflächen, in ihrer Asymmetrie und dem rudimentären Farbauftrag machen sie sich selbstständig und wachsen über ihre Vasenfunktion hinaus. Erzähl uns ein wenig über dein Vorgehen. Verfolgst du ein Konzept bei der Herstellung oder lässt du den Formen und Richtungen des Materials freien Lauf?

Johannes Nagel: „Material ist willig und unwillig“ hat meine erste Hochschulprofessorin gesagt. Es macht viele Dinge mit, die man mit ihm macht, hat aber keine eigen Richtung, außer vielleicht die, die die Schwerkraft vorgibt. Jede Form basiert auf den Erfahrungen mit den Vorgängern. Dazu hat jemand anderes mal in Bezug auf meine Arbeit geschrieben: „Form follows failure“. Das Graben als bildhauerische Methode ist vielleicht vergleichbar mit den „blotted lines“ von Warhol in seinen frühen Jahren als Grafiker. Ich brauche eine Vorstellung der Form, die ich erzeugen will. Das Verfahren ergänzt die Aura und die plastische Selbstverständlichkeit.

Esther Niebel: Deine Unterschrift auf den Arbeiten ist sehr präsent, anders als der dezente Stempel der traditionell die Herkunft von Keramik oder Porzellan ausweist. Verstärkt die sichtbare Autorenschaft deine Neuinterpretation des Gefäßes?

Johannes Nagel: Ich unterschreibe, wie man ein Bild signiert, als malerisches Mittel und zur Authentifizierung. Oft als wichtiger grafischer Impuls auf weichen Formen. Auf weißen Formen, bei denen das noch nicht durch Farbe betont ist. Gelegentlich auch als Hinweis darauf, dass es sich auch um ein Bild einer Vase handelt.

Stegreif #110, 41 x 19 x 17 cm, Porzellan, 2020 // Stegreif #123, 56x 36 x 30 cm, Porzellan, 2021 // Stegreif #124 black/black, 43 x 29 x 29 cm, Porzellan, 2021