Esther Niebel: Was reizt Dich an dem Medium Malerei?
Tino Geiss: An der Malerei reizt mich auf der einen Seite die Substanz und auf der anderen Seite ihre Erscheinung. Also physische, sinnliche Materialität und Seherfahrung.
Ich habe durch die künstlerische, malerische Arbeit die Möglichkeit, vorhandenen Spuren von Erinnerungen, individuellen und kulturellen Erfahrungen, zu folgen. Dabei greife ich malerisch etwas auf, zu dem ich einen bewussten oder unbewussten Bezug habe. Ich nehme mich des Themas an, gebe es direkt ohne ein dazwischengeschaltetes Medium wieder und füge etwas Eigenes hinzu.
Vor einiger Zeit hast Du die Collage für Dich als künstlerisches Ausdrucksmittel entdeckt. Collage allerdings nicht in dem Sinne, dass Du verschiedene, vorgefundene Bildmotive zusammensetzt – sondern Du verwendest Malerkrepp, das Du zuvor als temporäres Hilfsmittel für Deine Malerei benutzt hast als eigenständiges „Malmittel". Worin besteht für Dich der Unterschied – mit Farbe zu malen oder mit dem Malerkrepp Bilder zu „bauen“, die schlussendlich auch etwas sehr Malerisches haben?
Malerei ist im Prozess intimer als die Arbeit an der Collage. Egal, ob ich das Motiv liebe, hasse oder es mir emotional gleichgültig ist. Ich folge mit dem Pinsel seinem individuellen Charakter und bilde es nach.
Bei der Malerei verwende ich Pigmente, das heißt, ich muss Farbe erst in den Zustand versetzen, dass ich sie verarbeiten kann. Zunächst ist sie flüssig oder cremig, später kann man beobachten wie sie ihren Aggregatzustand verändert. Anders als die Collage ist Farbe formbar, sie lässt sich mit dem Pinsel verreiben oder mit dem Finger in den Bildgrund einmassieren. Während man den Trocknungsprozess abwartet vergeht Zeit, Zeit über das Bild nachzudenken.
Schneiden, reißen und cutten sind destruktive Tätigkeiten. Sie sind als Handlungen zerstörerisch und stellen durch die Dekonstruktion das Motiv in seinen Grundsätzen in Frage.
Tino Geiss
Im Gegensatz dazu ist die Arbeit an der Collage unwillkürlicher, situationsabhängiger, spontaner. Das Klebeband, eigentlich Abfallprodukt der Malerei, verwende ich weiter, so ist es als Ausgangsmaterial für die Collage dann bereits vorhanden. Die Entscheidung, ob etwas richtig oder falsch ist kann ich sofort treffen und gegebenenfalls intuitiv korrigieren. Das bewusste Nachdenken über das Bild passiert erst im Nachhinein, ist tatsächlich ein nach-Denken.
Was ist das Besondere an der Collage?
Der Arbeitsprozess ist bei der Collage ein völlig anderer als bei der Malerei. Schneiden, reißen und cutten sind destruktive Tätigkeiten. Sie sind als Handlungen zerstörerisch und stellen durch die Dekonstruktion das Motiv in seinen Grundsätzen in Frage. Die angestrebte Form wird zuerst zerstört, um danach wieder aufgebaut zu werden. Dabei kann unter Umständen auch etwas ganz Neues, Ungeplantes entstehen. Die Kanten und Linien haben bei der Collage einen hohen Eigenwert und verweisen daher stärker auf sich selbst als auf die Linien, die das Ausgangsmotiv beschreiben. Der individuelle Charakter des Gegenstandes wird dadurch aufgehoben, das Resultat wirkt maskenhaft, holzschnittartig. Die fertige Collage – das Bild – stellt für mich mehr die Idee hinter der Ausgangsform dar als das eigentliche Abbild seiner Erscheinung.
Deine Interieur-Malerei scheint durch Deine „Collage-Erfahrung“ kubistischer geworden zu sein. Das heißt, Du zerlegst Deine Bilder vermehrt in einzelne Flächen und grenzt diese farblich gegeneinander ab. Siehst Du das auch so? Was sind Deine neuen Entdeckungen?
Jedes Bild ist ein neues Bild und jedes Medium hat seine eigenen Gesetze. Bei der „Interieurmalerei“ war die „Interieurcollage“ Vorbild. Deshalb ähneln sich auch die Motive und es lassen sich bei aller Unterschiedlichkeit der Materialität viele Ähnlichkeiten feststellen. Motive, die auf anderen Vorbildern basieren, sehen anders aus. Ich arbeite an verschiedenen Themen und ein Thema geht bei mir auch mit einem passenden, eigenen Malmittel einher. Das ist für mich zunächst fundamental – eine neue Auseinandersetzung und eine neue Erfahrung.
Was reizt Dich an der Erforschung von neuem Material. Warum reicht es Dir nicht, auf das Handwerkszeug, das Du Dir erarbeitet hast, zurückzugreifen?
Mich interessiert eher das Entdecken, das Erforschen von Strukturen und Prozessen, als das Abbilden und Wiederholen von Wissen und Können. Es gibt Motive, bei denen ich innerhalb des verwendeten Mediums an Grenzen stoße. Zur Problemlösung sind Erkenntnisse und Erfahrungen nötig, die aber nicht in jedem Fall konkret einsetzbar sind. Dann suche ich nach neuen Lösungen, die mit Umwegen, neuen Handlungen und manchmal auch mit noch nicht verwendeten Materialien einher gehen. Wenn man Malerei als Suche nach einem adäquaten Ausdrucksmittel von Wahrnehmung und Gefühl bezeichnet, so gehört für mich die Veränderung der Themen, denen ich mich zuwende, genauso wie die formale Umsetzung zwangsläufig zu diesem Prozess dazu.
Ich möchte mit meinen Bildern und Bildtiteln keine Geschichten erzählen. Es geht mir um Malerei und um das Erlebnis des Bildes
Tino Geiss
Deine neuste Werkgruppe hat eine ganz andere malerische Sprache als die Interieurs. Nur anhand des Farbspektrums kann man noch Deine künstlerische Handschrift nachvollziehen. Die Oberflächen dieser Bilder bekommt durch die abschließende Glasur etwas Porzellanartiges. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die vielen Schichten, die unter dem finalen Motiv schlummern und dem Bild etwas Körperliches verleihen. Was steckt hinter diesem künstlerischen Sprung/Bruch, der sich da vollzogen hat?
Die Unterschiede sind dem Motiv geschuldet und dem daraus resultierenden Material. Zunächst würde ich sagen, dass es große Gemeinsamkeiten der einzelnen Werkgruppen, wenn man davon überhaupt sprechen kann, gibt. Zunächst formal, in der Präsenz der Geste. Das heißt, bei der Malerei sind die Pinselstriche, bei der Collage die einzelnen Klebebänder gut erkennbar. Dadurch ergibt sich ein Bild, das in der Ferne geschlossen wirkt, bei näherer Betrachtung jedoch durch die nicht geglättet Geste abstrakte Qualität besitzt.
Bei den Interieurs gibt es einzelne Stellen im Bild, die im Farbauftrag pastos sind und dadurch partiell die gleiche sinnliche Qualität besitzen wie bei den neueren Arbeiten der gesamte Farbkörper. Die Collagen bestehen auch aus einer Vielzahl von Schichten und „Vor-Bildern“, die unter der Oberfläche schlummern und das finale Bild mitbestimmen. Auch sie fordern zum näheren Betrachten auf und sind in ihrer Wirkung distanzabhängig, schließen und öffnen sich. Die finale Glasur – bei den von dir so genannten „Porzellanbildern“ – hat eine schützende Funktion und erzeugt den Anschein von Konservierung, eine Distanz zum Betrachter. Die gleiche Funktion hat das Glas, hinter dem die Collage präsentiert wird.
Deine Bildtitel sind eher schlicht und rein bezeichnend. Du gehst nur einen kleinen Schritt über den allbekannten „ohne Titel“ hinaus. Warum überhaupt und warum nicht weiter?
Ich möchte mit meinen Bildern und Bildtiteln keine Geschichten erzählen. Es geht mir um Malerei und um das Erlebnis des Bildes. Insofern dient die „Banalität“ des Bildtitels dazu, dass der Betrachter das Bild als Malerei und nicht als Narration auffasst.