Esther Niebel: Du stellst ab April 2021 erstmalig zusammen mit Johannes Nagel unter dem Titel RECHERCHEN aus. Im Vorfeld haben wir über den Titel diskutiert und nach Gemeinsamkeiten eurer Arbeiten gesucht, die sich im Titel ausdrücken. Ausgehend von dem Romantitel von Marcel Proust „Á la recherche du temps perdu“ sind wir schließlich auf RECHERCHEN gekommen. Wobei zu deinen Arbeiten, auf denen du Interieurs vergangener Epochen zeigst, noch besser der ganze Originaltitel des Romans gepasst hätte. Wie viel Verlust und wie viel Zugewinn bedeutet es, gemeinsam mit einem anderen Künstler auszustellen? Vielleicht ist diese Frage am Besten konkret anhand des Titelbeispiels zu stellen: „Á la recherche du temps perdu“ führt tief in den Kosmos deiner Bilder hinein und vermittelt das leicht staubige Gefühl einer nostalgischen Erinnerungskultur. Der tatsächliche Titel RECHERCHEN gibt im Kontext deiner Arbeiten ein weniger emotionales Bild. Er rückt den Moment des systematischen sich auf die Suche-Bege- bens in den Vordergrund - deine Suche als Maler, aber auch die Suche inner- halb der Bildmotive durch den Betrachter. Was ist für dich erkenntnisfördernder?
Tino Geiss: Ich finde Recherchen super und hätte den Titel auch in der Einzahl genommen. Meine Recherche ist unabhängig vom Motiv. In den Bildern steckt, bei aller Nostalgie, viel Gegenwart und für diese Suche ich nach malerischen Lösungen. Ich bewege mich auf meiner Motivsuche wie ein Tourist: ich reise und besuche Museen, Gedenkhäuser, fliege über Städte und finde dabei Motive, die mich motivieren und zum Arbeiten im Atelier antreiben. Die geschichtlichen und kulturellen Bedeutungen stehen dabei aber nicht im Vordergrund. Mich interessieren an diesen Orten die Farben, Fluchtlinien, Staffelungen, Volumen, Bruchkanten. Ich suche nach Licht und Schatten. Gerade ist Dunkelheit ein großes Thema. Und Schatten: der vermeintliche Ursprung der Malerei in Griechenland. Dadurch wird zwar die dreidimensionale Raumerfahrung etwas zurückgenommen, die inneren Details gehen ein Stück weit verloren, dafür bleibt aber mehr Raum für Erfindung, mehr Sehnsucht! Mir gefällt die Idee, dass die Malerei aus der Linie rund um einen Schatten entstanden sein soll. Butades, der aus dem Schattenriss, den seine Tochter von ihrem Geliebten an eine Wand gemalt hatte, ein Relief gemeißelt haben soll, war übrigens Töpfer - eine schöne Verbindung zu Johannes Nagel.... Johannes Arbeiten verfolgen mich schon seit Jahren, seit unserer gemeinsamen Zeit in Jena Anfang 2000, haben sich unsere Biografien immer wieder gekreuzt. Ich hatte ihn aufgrund künstlerischer Wahlverwandtschaften schon für die Gruppenausstellung ANECKEN im Herbst letzten Jahres eingeladen. Verluste spüre ich keine, wenn ich mit ihm oder anderen Künstlern ausstelle. Wenn mich die Arbeiten interessieren, ich Reibungspunkte feststelle, gibt es nur einen Zugewinn.
Esther Niebel: In deinen Arbeiten beschäftigst du dich mit Serialität. Bestimmte Motive stellst du mit kleinen Variationen in Größe und Details oder auch in unterschiedlichen Medien, mal als Collage, mal als Malerei, immer wieder dar. Welche Bedeutung hat für dich Reproduktion im Kontext deiner Arbeiten?
Tino Geiss: Ich würde bei meinen Arbeiten nicht von Reproduktionen sprechen, eher wieder- hole ich Motive und ent-
wickle Varianten davon. Es gibt Bilder mit weiterem Klärungsbedarf auch nach ihrer Entstehung. Wenn ich mich diesen Motiven nochmals widme, ist die Erfahrung jedes mal anders. Es kommt vor, dass sich mir das Motiv entzieht und es fremd wirkt, obwohl ich es ja eigentlich schon kenne. Da ist irgendwas drin, was ich noch nicht verstanden habe, was neu ist, eine neue Erfahrung die mich überrascht. Eine Aufgabe bei der ich oft auch überfordert bin, obwohl mir das Motiv schon einmal gelungen ist. Ich versuche mich durch Tricks wie andere Bilddimensionen, andere Bildformate, andere Blickwinkel, andere An- oder Ausschnitte, Spiegelungen, Farbnegativvarianten malerisch den Leerstellen zu widmen und Lösungen zu finden. Dabei versuche ich Motive zu kopieren, von der Collage in die Malerei zu transformieren oder umgekehrt. Das geht immer schief. Ich denke zwar immer Collage ist Malerei, Malerei ist Collage, sie bedingen und bedienen sich gegenseitig, aber auch das hat seine Grenzen...
Esther Niebel: Deine Motivvorlagen sind Fotografien. Du beschäftigst dich in deiner Kunst also mit Abbildungen der Realität und nicht mit der Realität selbst. Was reizt dich daran und welchen Unterschied macht das?
Tino Geiss: Das Foto dient als Grundlage, mehr nicht. Meine Realität ist das gemalte Bild, die Collage, das Material der Leinwand, der Farbe, der Papierklebebandstreifen. Die Bilder sind die Welt in der ich lebe. Dort ist der Maßstab zu finden, die Gesetze nach dem ein Bild beurteilt werden kann. Es gibt kein Naturstudium, keinen Abgleich mit der Außenwelt.
Esther Niebel: In unserem alltäglichen Umfeld sind wir ständig einer “Bilderflut” ausgesetzt. Wir sind nicht mehr in der Lage diese Flut nach ihrem Wert zu beurteilen und einzuordnen. Damit einher geht eine “Enthierarchisierung” von Bildern, die von Walther Benjamin beschriebene “Aura” schwindet. Wie ist es mit den von dir dargestellten Räumen? Sind sie für dich alle gleichwetig und hat dein Urteil darüber Auswirkungen auf deine Darstellungsweise.
Tino Geiss: Die Motive sind Motive, sie motivieren mich zum malen. Ich fälle kein Urteil über sie, nur über die Qualität der Malerei. Entweder sie funktionieren als Malerei oder ich scheitere und muss sie übermalen. Dabei treffe ich Entscheidungen, beurteile, ordne ein. Das Bildermachen ist stark vom Moment und vom gegenwärtigen Zustand abhängig. Da spielen Emotionen, Erregungen, Unruhe, aber auch Erwartungen eine wichtige Rolle, sie treffen direkt auf den Bildgrund auf. Das sind seismographische Aufzeichnungen, abhängig vom Augenblick und von der Technik – klingt alles sehr nach Aura... Jeder hat die Fähigkeit in Resonanz zu treten.